6. Dezember

„Ich – ich sollte meinen, das wäre eben keine Hoffnung,“ sagte Scrooge.

„Ohne ihr Kommen,“ sagte der Geist, „kannst Du nicht hoffen, den Pfad zu vermeiden, den ich verfolgen muß. Erwarte den Ersten Morgen früh, wenn die Glocke Eins schlägt.“

„Könnte ich sie nicht alle auf einen Schluck nehmen?“ meinte Scrooge.

„Erwarte den zweiten in der nächsten Nacht um dieselbe Stunde. Den dritten in der nächsten Nacht, wenn der letzte Schlag Zwölf ausgeklungen hat. Schau mich an, denn Du siehst mich nicht mehr; und schau mich an, daß Du Dich um Deinetwillen an das erinnerst, was zwischen uns geschehen ist.“

Als es diese Worte gesprochen hatte, nahm das Gespenst das Tuch von dem Tische und band es sich wieder um den Kopf. Scrooge erfuhr das durch das Knirschen der Zähne, als die Kinnladen zusammen klappten. Er wagte es, die Augen zu erheben und erblickte seinen übernatürlichen Besuch vor sich stehen, die Augen noch starr auf ihn geheftet, und die Kette um den Leib und den Arm gewunden.

Die Erscheinung entfernte sich rückwärtsgehend; und bei jedem Schritt öffnete sich das Fenster ein wenig, so daß, als das Gespenst es erreichte, es weit offen stand. Es winkte Scrooge, näher zu kommen, was er that. Als sie noch zwei Schritte von einander entfernt waren, hob Marley’s Geist die Hand in die Höhe, ihm gebietend, nicht näher zu kommen. Scrooge stand still.

Weniger aus Gehorsam, als aus Ueberraschung und Furcht: denn wie sich die gespenstige Hand erhob, hörte er verwirrte Klänge durch die Luft schwirren und unzusammenhangende Töne des Klagens und des Leides, unsagbar schmerzensvoll und reuig. Das Gespenst horchte ihnen eine Weile zu und stimmte dann in das Klagelied ein; dann schwebte es in die dunkle, kalte Nacht hinaus.

Scrooge trat an das Fenster, von der Neugier bis zur Verzweiflung getrieben. Er sah hinaus.

Die Luft war mit Schatten angefüllt, welche in ruheloser Hast und klagend hin und her schwebten. Jeder trug eine Kette, wie Marley’s Geist; einige wenige waren zusammengeschmiedet (wahrscheinlich schuldige Regierungen), keines war ganz fessellos. Viele waren Scrooge während ihres Lebens bekannt gewesen. Ganz genau hatte er einen alten Geist in einer weißen Weste gekannt, welcher einen ungeheuren eisernen Geldkasten hinter sich herschleppte und jämmerlich schrie, einem armen, alten Weibe mit einem Kinde nicht beistehen zu können, welches unten auf einer Thürschwelle saß. Man sah es klar, ihre Pein war, sich umsonst bestreben zu müssen, den Menschen Gutes zu thun und die Macht dazu auf immer verloren zu haben.

Ob diese Wesen in dem Nebel zergingen, oder ob sie der Nebel einhüllte, wußte er nicht zu sagen. Aber sie und ihre Gespensterstimmen vergingen zu gleicher Zeit und die Nacht wurde wieder so, wie sie bei seinem Nachhausegehen gewesen war.

Scrooge schloß das Fenster und untersuchte die Thür, durch welche das Gespenst hereingekommen war. Sie war noch verschlossen und verriegelt, wie vorher. Er versuchte zu sagen: dummes Zeug, aber blieb bei der ersten Sylbe stecken, und da er von der innern Bewegung, oder von den Anstrengungen des Tages, oder von seinem Einblick in die unsichtbare Welt, oder der Unterhaltung mit dem Gespenst, oder der späten Stunde sehr erschöpft worden war, ging er sogleich zu Bett, ohne sich auszuziehen, und sank schnell in Schlaf.

Zweites Kapitel.

Der Erste der drei Geister.

 

Als Scrooge wieder aufwachte, war es so finster, daß er kaum das durchsichtige Fenster von den Wänden seines Zimmers unterscheiden konnte. Er bemühte sich, die Finsterniß mit seinen Katzenaugen zu durchdringen, als die Glocke eines Thurmes in der Nachbarschaft viertelte. Er lauschte, um die Stunde schlagen zu hören.

Zu seinem großen Erstaunen schlug die Glocke fort, von sechs zu sieben, und von sieben zu acht und so weiter bis zwölf; dann schwieg sie.

Zwölf! Es war zwei vorüber gewesen, als er sich zu Bett gelegt hatte. Das Uhrwerk mußte falsch gehen. Ein Eiszapfen mußte zwischen die Räder gekommen sein. Zwölf!

Er drückte an die Feder seiner Repetiruhr, um der verrückten Glocke nachzuhelfen. Ihr kleiner, lebendiger Puls schlug zwölf, und schwieg.

„Was! es ist doch nicht möglich,“ sagte Scrooge, „ich sollte den ganzen Tag und tief in die andere Nacht geschlafen haben? Es ist doch nicht möglich, daß der Sonne was passirt und daß es Mittags um zwölf ist.“

Mit diesem unruhigen Gedanken beschäftigt, stieg er aus dem Bett und fühlte sich nach dem Fenster. Er mußte das Eis erst wegkratzen und das Fenster mit dem Aermel seines Schlafrockes abwischen, ehe er etwas sehen konnte; und auch hernach konnte er nur sehr wenig sehen. Alles, was er gewahren konnte, war, daß es noch sehr neblicht und sehr kalt war, und daß man nicht den Lärm hin und hereilender Leute hörte, der doch gewiß stattgefunden hätte, wenn Nacht den hellen Tag vertrieben und selbst Besitz von der Welt genommen hätte. Das war ein großer Trost,

weil „drei Tage nach Sicht bezahlen Sie diesen Primawechsel an Mr. Ebenezer Scrooge oder dessen Ordre u. s. w.“ eine bloße Vereinigte Staaten-Sicherheit gewesen wäre, wenn es keine Tage mehr gab, um danach zu zählen.

Scrooge legte sich wieder ins Bett und dachte darüber hin und her, konnte aber zu keinem Schlusse kommen. Je mehr er nachdachte, desto verwirrter wurde er; und je mehr er sich bestrebte, nicht nachzudenken, desto mehr dachte er nach. Marley’s Geist machte ihm viel zu schaffen. Allemal, wenn er nach reiflicher Ueberlegung zu dem festen Entschluß gekommen war, das Ganze nur für einen Traum zu halten, flog sein Geist wie eine starke vom Druck befreite Feder wieder in die alte Lage zurück und legte ihm dieselbe Frage wieder vor, die er schon zehnmal überlegt hatte: war es ein Traum oder nicht?

Scrooge blieb in diesem Zustande liegen, bis es wieder drei Viertel schlug. Da besann er sich plötzlich, daß der Geist ihm eine Erscheinung mit dem Schlage Eins versprochen hatte. So beschloß er wach zu bleiben, bis die Stunde vorüber sei; und wenn man bedenkt, daß er eben so wenig schlafen, als in den Himmel kommen konnte, war dies gewiß der klügste Entschluß, den er fassen konnte.

Die Viertelstunde war so lang, daß es ihm mehr als ein Mal vorkam, er müßte unversehens in Schlaf gefallen sein und die Uhr überhört haben. Endlich vernahm sein lauschendes Ohr die Glocke.

„Bim, Baum!“

„Ein Viertel,“ sagte Scrooge zählend.

„Bim, Baum!“

„Halb,“ sagte Scrooge.

„Bim, Baum!“

„Drei Viertel,“ sagte Scrooge.

„Bim, Baum!“

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