22. Dezember

Alles war ruhig, Alles war still, sehr still. Die lärmenden kleinen Cratchit’s saßen stumm, wie steinerne Bilder, in einer Ecke und sahen auf Peter, der ein Buch vor sich hatte. Die Mutter und die Töchter nähten. Aber gewiß waren sie auch still, sehr still.

„Und er nahm ein Kind und stellte es in ihre Mitte.“

Wo hatte Scrooge diese Worte gehört? Der Knabe mußte sie gelesen haben, als er und der Geist über die Schwelle traten. Warum fuhr er nicht fort?

Die Mutter legte ihre Arbeit auf den Tisch und fuhr mit der Hand nach dem Auge.

„Die Farbe blendet mich,“ sagte sie.

Die Farbe? ach, der arme Tiny Tim!

„Sie sind jetzt wieder besser,“ sagte Cratchit’s Frau. „Die Farbe blendet sie bei Licht und ich möchte den Vater, wenn er heim kommt, nicht sehen lassen, daß ich schwache Augen habe. Es muß bald seine Zeit sein.“

„Fast schon vorüber,“ erwiderte Peter, das Buch schließend. „Aber ich glaube, er geht jetzt ein wenig langsamer als gewöhnlich, Mutter.“

Sie waren wieder sehr still. Endlich sagte sie mit einer ruhigen, heitern Stimme, die nur ein einziges Mal zitterte:

„Ich weiß, daß er mit – ich weiß, daß er mit Tiny Tim auf der Schulter sehr schnell ging.“

„Und ich auch,“ rief Peter. „Oft.“

„Und ich auch,“ riefen die Andern.

„Aber er war sehr leicht zu tragen,“ fing sie wieder an, fest auf ihre Arbeit sehend, „und der Vater liebte ihn so, daß es keine Beschwerde war – keine Beschwerde. Und da kommt der Vater.“

Sie eilte ihm entgegen und Bob mit dem Shawl – er hatte ihn nöthig, der arme Kerl – trat herein. Sein Thee stand bereit und sie drängten sich Alle herbei, wer ihm am meisten helfen könne. Dann kletterten die beiden kleinen Cratchit’s auf seine Kniee und jedes Kind legte eine kleine Wange an die seine, als wollten sie sagen: kümmere Dich nicht so sehr, Vater.

Bob war sehr heiter und sprach sehr munter mit der ganzen Familie. Er besah die Arbeit auf dem Tische und lobte den Fleiß und den Eifer seiner Frau und Töchter. „Sie würden lange vor Sonntag fertig sein,“ sagte er.

„Sonntag! Du warst also heute dort, Robert!“ sagte seine Frau.

„Ja, meine Liebe,“ antwortete Bob. „Ich wollte, Du hättest hingehen können. Es würde Dein Herz erfreut haben, zu sehen, wie grün die Stelle ist. Aber Du wirst sie oft sehen. Ich versprach ihm, Sonntags hinzugehen. Mein liebes, liebes Kind!“ weinte Bob. „Mein liebes Kind!“

Er brach auf einmal zusammen. Er konnte nicht dafür. Wenn er dafür gekonnt hätte, so wäre er und sein Kind wohl weiter von einander getrennt gewesen.

Er verließ das Zimmer und ging die Treppe hinauf in ein Zimmer, welches hell erleuchtet und weihnachtsmäßig

 

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aufgeputzt war. Ein Stuhl stand dicht neben dem Kinde und man sah, daß vor kurzem Jemand da gewesen war. Der arme Bob setzte sich nieder, und als er ein wenig nachgedacht und sich gefaßt hatte, küßte er das kleine, kalte Gesicht. Er war versöhnt mit dem Geschehenen und ging wieder hinunter ganz glücklich.

Sie setzten sich um das Feuer und unterhielten sich; die Mädchen und die Mutter arbeiteten fort. Bob erzählte ihnen von der außerordentlichen Freundlichkeit von Scrooge’s Neffen, den er

kaum ein einziges Mal gesehen habe. Er habe ihn heute auf der Straße getroffen und wie er gesehen, daß er ein wenig niedergeschlagen aussähe, habe er ihn befragt, was ihn bekümmere. „Worauf,“ sagte Bob, „denn er ist der leutseligste junge Herr, den ich nur kenne, ich es ihm sagte. ‚Ich bedaure Sie herzlich, Mr. Cratchit,‘ sagte er, ‚und auch Ihre gute Frau.‘ Uebrigens, wie er das wissen kann, möchte ich wissen.“

„Was soll er wissen, mein Lieber?“

„Nun, daß Du eine gute Frau bist,“ antwortete Bob.

„Jedermann weiß das,“ sagte Peter.

„Sehr gut bemerkt, mein Junge,“ rief Bob. „Ich hoffe, ’s ist so. ‚Herzlich bedaure ich,‘ sagte er, ‚Ihre gute Frau. Wenn ich Ihnen auf irgend eine Weise behülflich sein kann,‘ sagte er, indem er mir seine Karte gab, ‚das ist meine Wohnung. Kommen Sie nur zu mir.‘ Nun,“ rief Bob, „ist es nicht gerade um deswillen, daß er etwas für uns thun könnte, sondern mehr wegen seiner herzlichen Weise, daß ich mich darüber so freute. Es schien wirklich, als hätte er unsern Tiny Tim gekannt und fühlte mit uns.“

„Er ist gewiß eine gute Seele,“ sagte Mrs. Cratchit.

„Du würdest das noch sicherer glauben, Liebe,“ antwortete Bob, „wenn Du ihn sähest und mit ihm sprächest. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn er Petern eine bessere Stelle verschaffte. Merkt Euch meine Worte.“

„Nun höre nur, Peter,“ sagte Mrs. Cratchit.

„Und dann,“ rief eins der Mädchen, „wird sich Peter nach einer Frau umsehen.“

„Ach, sei still,“ antwortete Peter lachend.

„Nun, das kann schon kommen,“ sagte Bob, „aber dazu hat er noch Zeit im Ueberfluß.

Aber wie und wenn wir uns auch von einander trennen sollten, so bin ich doch überzeugt, daß Keiner von uns den armen Tiny Tim, oder diese erste Trennung, welche wir erfuhren, vergessen wird.“

„Niemals, Vater,“ riefen Alle.

„Und ich weiß,“ sagte Bob, „ich weiß, meine Lieben, wenn wir daran denken werden, wie geduldig und wie sanft er war, obgleich er nur ein kleines, kleines Kind war, werden wir nicht so leicht uns zanken und den guten Tiny Tim vergessen, wenn wir’s thun.“

„Nein, niemals, Vater,“ riefen sie Alle.

„Ich bin sehr glücklich,“ sagte Bob, „sehr glücklich.“

Mrs. Cratchit küßte ihn, seine Töchter küßten ihn, die beiden kleinen Cratchit’s küßten ihn und Peter und er drückten sich die Hand. Seele Tiny Tim’s, Du warst ein Hauch von Gott.

„Geist,“ sagte Scrooge, „ein Etwas sagt mir, daß wir bald scheiden werden. Ich weiß es, aber ich weiß nicht wie. Sage mir, wer es war, den wir auf dem Todtenbett sahen.“

Der Geist der zukünftigen Weihnachten führte ihn wie früher – obgleich zu verschiedener Zeit, dünkte ihm, überhaupt schien in den verschiedenen letzten Gesichten keine Zeitfolge stattzufinden – an die Zusammenkunftsorte der Geschäftsleute, aber er sah sich nicht. Der Geist verweilte nirgends, sondern schwebte immer weiter, wie nach dem Ort zu, wo Scrooge die gewünschte Lösung des Räthsels finden würde, bis ihn dieser bat, einen Augenblick zu verweilen.

„Ja, dieser Hof,“ sagte Scrooge, „durch den wir jetzt eilen, war einst mein Geschäft und war es lange Jahre. Ich sehe das Haus. Laß mich sehen, was ich in den kommenden Tagen sein werde.“

Der Geist stand still; die Hand wies wo anders hin.

„Das Haus ist dort,“ rief Scrooge. „Warum weisest Du wo anders hin?“

Der unerbittliche Finger nahm keine andere Richtung an.

Scrooge eilte nach dem Fenster seines Comptoirs und schaute hinein. Es war noch ein Comptoir, aber nicht das seinige. Die Möbel waren nicht dieselben und die Gestalt in dem Stuhl war nicht die seine. Die Erscheinung zeigte nach derselben Richtung, wie früher.

Er trat wieder zu ihr hin und nachsinnend, warum und wohin sie gingen, begleitete er sie, bis sie eine eiserne Gitterpforte erreichten. Er stand still, um sich vor dem Eintreten umzusehen.

Es war ein Kirchhof. Hier also lag der Unglückliche, dessen Namen er noch erfahren sollte, unter der Erde. Der Ort war seiner würdig. Rings von hohen Häusern umgeben; überwuchert von Unkraut, entsprossen dem Tod, nicht dem Leben der Vegetation; vollgepfropft von zu viel Leichen; gesättigt von übersättigtem Genuß.

Der Geist stand inmitten der Gräber still und wies auf eins derselben hinab. Scrooge näherte sich ihm zitternd. Die Erscheinung war noch ganz so wie früher, aber ihm war es immer, als sähe er eine neue Bedeutung in der düstern Gestalt.

„Ehe ich mich dem Stein nähere, den Du mir zeigst,“ sagte Scrooge, „beantworte mir eine Frage. Sind dies die Schatten der Dinge, welche sein werden, oder nur von denen, welche sein können?“

Immer noch wies der Geist auf das Grab hinab, vor dem sie standen.

„Die Wege des Menschen tragen ihr Ziel in sich,“ sagte Scrooge. „Aber wenn er einen andern Weg einschlägt, ändert sich das Ziel. Sage, ist es so mit dem, was Du mir zeigen wirst?“

Der Geist blieb so unbeweglich, wie immer.

Scrooge näherte sich zitternd dem Grabe und wie er der Richtung des Fingers folgte, las er auf dem Stein seinen eigenen Namen.

„Ebenezer Scrooge.“

„Bin ich es, der auf jenem Bett lag?“ rief er, auf die Kniee sinkend.

Der Finger wies von dem Grabe auf ihn und wieder zurück.

„Nein, Geist, o nein!“

Der Finger wies immer noch dorthin.

„Geist,“ rief er, sich fest an sein Gewand klammernd, „ich bin nicht mehr der Mensch, der ich war. Ich will ein anderer Mensch werden, als ich vor diesen Tagen gewesen bin. Warum zeigst Du mir dies, wenn alle Hoffnung vorüber ist?“

Zum ersten Male schien die Hand zu zittern.

„Guter Geist,“ fuhr er fort, „Dein eigenes Herz bittet für mich und bemitleidet mich. Sage mir, daß ich durch ein verändertes Leben die Schatten, welche Du mir gezeigt hast, ändern kann!“

Die gütige Hand zitterte.

„Ich will Weihnachten in meinem Herzen ehren und versuchen es zu feiern. Ich will in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft leben. Die Geister von allen Dreien sollen in mir wirken. Ich will mein Herz nicht ihren Lehren verschließen. O, sage mir, daß ich die Schrift auf diesem Steine weglöschen kann.“

In seiner Angst ergriff er die gespenstige Hand. Sie versuchte, sich von ihm loszumachen, aber er war stark in seinem Flehen und hielt sie fest. Der Geist, noch stärker, stieß ihn zurück.

Wie er seine Hände zu einem letzten Flehen um Aenderung seines Schicksals in die Höhe hielt, sah er die Erscheinung sich verändern. Sie wurde kleiner und kleiner und schwand zu einer Bettpfoste zusammen.

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