20. Dezember

„Wie geht’s?“ sagte der Eine.

„Wie geht’s Ihnen?“ sagte der Andere.

„Gut,“ sagte der Erste. „Der alte Geizhals ist endlich todt, wissen Sie es?“

„Ich hörte es,“ erwiederte der Zweite. „’S ist kalt, nicht?“

„Wie sich’s zu Weihnachten paßt. Sie sind wohl kein Schlittschuhläufer?“

„Nein, nein. Habe an andere Sachen zu denken. Guten Morgen!“

Kein Wort weiter. So trafen sie sich, so schieden sie.

Scrooge war erst zu staunen geneigt, daß der Geist auf anscheinend so unbedeutende Gespräche ein Gewicht zu legen schien; aber sein Gefühl sagte ihm, daß sie eine verborgene Bedeutung haben müßten, und er dachte nach, was wohl diese sein möge. Sie konnten sich nicht auf den Tod Jacob’s, seines alten Compagnons, beziehen, denn der gehörte der Vergangenheit an, und sein Führer war der Geist der Zukunft. Auch konnte er sich Niemand von den ihn näher Angehenden denken, auf den er sie hätte beziehen können. Aber in der Gewißheit, daß, auf wen sie sich auch beziehen möchten, doch für ihn eine wichtige Lehre darin liege, beschloß er, jedes Wort, das er hörte und jede Scene, die er sah, treu in seinem Herzen aufzubewahren, und vorzüglich seinen Schatten zu beobachten, wenn er erschien. Denn er erwartete von dem Benehmen seines zukünftigen Selbst die vermißte Aufklärung und die Lösung der Räthsel, die ihm jetzt so schwierig schien.

Schon auf der Börse schaute er sich nach seinem Selbst um; aber ein Anderer stand in seiner gewohnten Ecke, und obgleich die Uhr auf die Stunde wies,

wo er gewöhnlich dort war, sah er sich doch auch nicht unter den Scharen, welche durch den Eingang sich herein drängten. Das überraschte ihn jedoch wenig, denn er hatte schon lange daran gedacht, sein Geschäft aufzugeben und glaubte und hoffte, in diesen Erscheinungen die künftige Verwirklichung seines Planes zu sehen.

Reglos und schwarz stand neben ihm das Gespenst mit seiner ausgestreckten Hand. Als er wieder von seiner nachdenklichen Stellung aufblickte, glaubte er nach der Richtung der Hand, daß die unsichtbaren Augen sich starr auf ihn hefteten. Bei dem Gedanken überlief ihn ein kalter Schauer.

Sie verließen die geschäftige Umgebung und gingen in einen abgelegenen Theil der Stadt, wo Scrooge nie vorher gewesen war, dessen Lage und schlechten Ruf er aber kannte. Die Straßen waren schmutzig und eng und krumm; die Läden und Häuser ärmlich; die Menschen halbnackt, betrunken, barfuß, häßlich. Gäßchen und Thorwege, wie eben so viele Kloaken strömten Abscheu erregende Gerüche und Schmutz und Menschen in die Straßen; und das ganze Viertel schien erfüllt von Verbrechen, von Schmutz und von Elend.

In einem der tiefsten Winkel dieses Zufluchtsortes der Sünde und der Schmach war ein niedriger, dunkler Laden unter einem Wetterdache, wo Eisen, Lumpen, Flaschen, Knochen und Fettabraum verkauft wurden. Auf dem Fußboden drinnen lag ein Haufen verrosteter Schlüssel, Nägel, Ketten, Thürangeln, Feilen, Waagen, Gewichte und altes Eisen aller Art. Geheimnisse, nach deren Enträthselung Wenige verlangen würden, wurden erzeugt und verborgen in Bergen widriger Lumpen, Massen verdorbenen Fettes und ganzen Beinhäusern von Knochen. Mitten unter den Waaren, mit denen er handelte, saß neben einem aus alten Ziegeln zusammengesetzten Ofen ein grauhaariger, fast siebzigjähriger Schelm, der sich vor der Kälte draußen durch einen pauschigen

Vorhang von allerlei Lumpen, auf eine Leine gehängt, geschützt hatte und seine Pfeife im Vollgenusse des Behagens rauchte.

Scrooge und die Erscheinung traten neben diesen Mann, gerade wie eine Frau mit einem schweren Bündel in den Laden schlich. Aber sie war kaum eingetreten, als eine zweite Frau, auch mit einem Bündel, ihr nachkam; und auf diese folgte dicht ein Mann in altem, abgetragenem schwarzen Anzuge, der nicht weniger von ihrem Anblick erschrocken war, als sie vor einander erschrocken waren. Nach einigen Augenblicken sprachlosen Staunens, an dem der Alte mit der Pfeife Theil genommen hatte, brachen sie alle Drei in ein lautes Gelächter aus.

„Sage Jemand, die Leichenwäscherin würde die Erste sein,“ sagte die zuerst Eingetretene. „Sage Jemand, die Wärterin würde die Zweite sein; und nenne Jemand des Leichenbesorgers Gehülfen den Dritten. Schau’, alter Joe, wie sich das fügt! ob wir uns nicht alle Drei hier getroffen haben, ohne daß wir’s wollten.“

„Ihr hättet Euch an keinem besseren Orte treffen können,“ sagte der alte Joe, die Pfeife aus dem Munde nehmend. „Kommt in das Staatszimmer. Ihr habt schon seit lange das Bürgerrecht dort, das wißt Ihr; und die anderen Zwei sind auch keine Fremden. Wartet, bis ich die Ladenthür zugemacht habe. O, wie sie knarrt! ich glaube, es giebt kein so rostiges Stück Eisen in dem ganzen Laden, als die Thürangeln; und ich weiß, es giebt keine so alten Knochen hier, wie meine. Haha, wir passen Alle zu unserm Geschäft. Kommt in’s Staatszimmer.“

Das Staatszimmer war der Raum hinter dem Lumpenvorhange. Der Alte scharrte das Feuer mit einem alten Roulleauxstabe zusammen, schob den Docht seiner rauchigen Lampe, denn es war Abend, mit dem Stiele seiner Pfeife in die Höhe und steckte diese wieder in den Mund.

Während er so beschäftigt war, warf die zuerst eingetretene Frau

ihr Bündel auf den Boden und setzte sich mit coquettirender Frechheit auf einen Stuhl; dann legte sie die Hände auf die Kniee und sah die beiden Andern mit kühnem Trotz an.

„Nun, was ist da für ein Unterschied, Mrs. Dilber? Jeder hat das Recht, für sich zu sorgen. Er that es immer.“

„Das ist wahr,“ sagte die Wärterin. „Keiner that es mehr.“

„Nun, warum guckt Ihr Euch da einander an, als fürchtet Ihr Euch? wer ist der Klügere? wir wollen doch nicht einander die Augen aushacken, denk ich!“

„Nein, gewiß nicht,“ sagte Mrs. Dilber und der Mann zusammen. „Wir wollen es nicht hoffen.“

„Nun gut denn,“ rief die Frau, „das ist genug. Wem schadet’s, wenn wir so ein Paar Sachen mitnehmen, wie die hier? Einer Leiche gewiß nicht!“

„Nein, gewiß nicht,“ sagte Mrs. Dilber lachend.

„Wenn er sie, wie ein alter Geizhals, noch nach dem Tode behalten wollte,“ fuhr die Frau fort, „warum war er während seines Lebens nicht besser? Wenn er’s gewesen wäre, würde Jemand um ihn gewesen sein, als er starb, statt daß er allein seinen letzten Athem fahren lassen mußte.“

„Es ist das wahrste Wort, was je gesprochen worden,“ sagte Mrs. Dilber.

„Es ist ein Gottesgericht.“

„Ich wollte, es wäre ein Bischen schwerer ausgefallen,“ sagte die Frau; „und wär’s auch, verlaßt Euch d’rauf, wenn ich mehr hätte kriegen können. Mache das Bündel auf, Joe, und sag mir, was es werth ist. Sprich gerade heraus. Ich fürchte mich nicht, die Erste zu sein, noch es ihnen sehen zu lassen. Wir wußten gut

genug, daß wir für uns sorgten, ehe wir uns hier trafen. ’S ist keine Sünde. Mach’ das Bündel auf, Joe.“

Aber die Galanterie ihrer Freunde wollte das nicht erlauben; und der Mann in dem abgetragenen schwarzen Rock brachte seine Beute zuerst. Es war nicht viel daran. Ein oder zwei Siegel, ein silberner Bleistift, ein Paar Hemdknöpfe und eine Broche von geringem Werthe war Alles.

 

Sie wurden von dem alten Joe untersucht und abgeschätzt, worauf er die Summe, welche er für Jedes bezahlen wollte, an die Wand schrieb und zusammenrechnete, wie er fand, daß nichts mehr kam.

„Das ist Eure Rechnung,“ sagte Joe, „und ich gebe keinen Sixpence mehr, und wenn ich in Stücke gehauen werden sollte. Wer kommt jetzt?“

Mrs. Dilber war die Nächste. Sie hatte Bett- und Handtücher, einige Kleidungsstücke, zwei altmodische silberne Theelöffel, eine Zuckerzange und einige Paar Stiefel. Ihre Rechnung wurde auf dieselbe Weise an die Wand geschrieben.

„Damen gebe ich immer zu viel. ’S ist meine Schwäche und ich richte mich damit zu Grunde,“ sagte der alte Joe. „Das ist Eure Rechnung. Wenn Ihr einen Pfennig mehr haben wolltet und ließet es darauf ankommen, so thäte es mir leid, so freigebig gewesen zu sein und ich zöge eine halbe Krone ab.“

„Und nun mach’ mein Bündel auf, Joe,“ sagte die Erste.

Joe kniete nieder, um bequemer das Bündel öffnen zu können, und nachdem er eine große Menge Knoten aufgemacht hatte, zog er eine große und schwere Rolle eines dunklen Zeugs heraus.

„Was ist das?“ sagte Joe. „Bettgardinen.“

„Ach,“ rief das Weib lachend und sich vorbeugend. „Bettgardinen!“

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