14. Dezember

„Hier ist Martha, Mutter,“ sagte ein Mädchen, zur Thür hereintretend.

 

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„Hier ist Martha, Mutter,“ riefen die beiden kleinen Cratchit’s. „Hurrah, das ist eine Gans, Martha.“

„Gott grüße Dich, liebes Kind! wie spät Du kommst!“ sagte Mrs. Cratchit, sie ein Dutzend Mal küssend und mit zuthulichem Eifer ihr Shawl und Hut abnehmend.

„Wir hatten gestern Abend viel zurecht zu machen,“ antwortete das Mädchen, „und mußten heute Alles fertig machen, Mutter.“

„Nun, es schadet nichts, da Du doch da bist,“ sagte Mrs. Cratchit. „Setze Dich an das Feuer, liebes Kind, und wärme Dich.“

„Nein, nein, der Vater kommt,“ riefen die beiden kleinen Cratchit’s, die überall zu gleicher Zeit waren. „Versteck Dich, Martha, versteck Dich!“

Martha versteckte sich und jetzt trat Bob herein, der Vater. Wenigstens drei Fuß, ungerechnet der Franzen, hing der Shawl auf seine Brust herab und die abgetragnen Kleider waren geflickt und gebürstet, um ihnen ein Ansehen zu geben. Tiny Tim saß auf seiner Schulter. Der arme Tiny Tim! er trug eine kleine Krücke und seine Glieder wurden von eisernen Schienen gestützt.

„Nun, wo ist unsere Martha?“ rief Bob Cratchit, im Zimmer herumschauend.

„Sie kommt nicht,“ sagte Mrs. Cratchit.

„Sie kommt nicht?“ sagte Bob mit einer plötzlichen Abnahme seiner fröhlichen Laune; denn er war den ganzen Weg von der Kirche Tim’s Pferd gewesen und im vollen Laufe nach Hause gerannt. „Sie kommt nicht zum Weihnachtsabend?“

Martha wollte ihm keinen Schmerz verursachen, selbst nicht aus Scherz, und so trat sie

hinter der Thür hervor und schlang die Arme um seinen Hals, während die beiden kleinen Cratchit’s sich Tiny Tim’s bemächtigten und ihn nach dem Waschhause trugen, damit er den Pudding im Kessel singen höre.

„Und wie hat sich der kleine Tim aufgeführt?“ frug Mrs. Cratchit, als sie Bob wegen seiner Leichtgläubigkeit geneckt und Bob seine Tochter nach Herzenslust geküßt hatte.

„Wie ein Goldkind,“ sagte Bob, „und noch besser. Ich weiß nicht, wie es zugeht, aber er wird jetzt so träumerisch vom Alleinsitzen, und sinnt sich die seltsamsten Dinge aus. Heute wie wir nach Haus gingen, sagte er, er hoffe, die Leute sähen ihn in der Kirche, denn er sei ein Krüppel, und es wäre vielleicht gut für sie, sich am Christtag an den zu erinnern, der Lahme gehend und Blinde sehend machte.“

Bob’s Stimme zitterte, als er dies sagte und zitterte noch mehr, als er hinzufügte, daß Tiny Tim stärker und gesunder werden würde.

Man hörte jetzt seine kleine Krücke auf dem Fußboden und ehe weiter ein Wort gesprochen worden, war Tim wieder da und wurde von seinem Bruder und seiner Schwester nach seinem Stuhl neben dem Feuer geführt. Während jetzt Bob, seine Rockaufschläge in die Höhe schlagend – als wenn es möglich wäre, sie noch mehr abzutragen – in einer Bowle aus Cognac und Citronen eine heiße Mischung zubereitete, und sie umrührte und wieder an das Feuer setzte, damit sie sich warm halten möge, gingen Master Peter und die zwei sich überall befindenden kleinen Cratchit’s, um die Gans zu holen, mit der sie bald in feierlichem Zuge zurückkehrten.

Jetzt entstand ein solcher Lärm, als ob eine Gans der seltenste aller Vögel wäre; ein gefiedertes Wunder,

gegen das ein schwarzer Schwan etwas ganz Gewöhnliches wäre, und wirklich war sie es auch in diesem Hause. Mrs. Cratchit ließ die Bratenbrühe aufwallen; Master Peter schmorte die Kartoffeln mit unglaublichem Eifer; Miß Belinda machte die Aepfelsauce süß; Martha stäubte die gewärmten Teller ab; Bob trug Tiny Tim neben sich in eine behagliche Ecke am Tisch; die beiden kleinen Cratchit’s stellten die Stühle zurecht, wobei sie sich nicht vergaßen, und nahmen ihren Posten ein, den Löffel in den Mund steckend, um nicht nach Gans zu schreien, ehe die Reihe an sie kam. Endlich wurde das Gericht aufgetragen und das Tischgebet gesprochen. Darauf folgte eine athemlose Pause, als Mrs. Cratchit, das Vorschneidemesser langsam von der Spitze bis zum Heft betrachtend, sich zurecht machte, es der Gans in die Brust zu stoßen; aber wie sie es that, und wie der lang erwartete Strom des Gefüllsels sich ergoß, ertönte ein freudiges Murmeln um den ganzen Tisch, und selbst Tiny Tim, durch die beiden kleinen Cratchit’s in Feuer gebracht, schlug mit dem Heft seines Messers auf den Tisch und rief ein schwaches Hurrah.

Nie hatte es so eine Gans gegeben. Bob sagte, er glaube nicht, daß jemals eine solche Gans gebraten worden wäre. Ihre Zartheit und ihr Fett, ihre Größe und ihre Billigkeit waren der Gegenstand allgemeiner Bewunderung. Mit Hülfe der Aepfelsauce und der geschmorten Kartoffeln, gab sie ein hinreichendes Mahl für die ganze Familie; und wie Mrs. Cratchit einen einzigen kleinen Knochen noch auf der Schüssel liegen sah, sagte sie mit großer Freude, sie hätten doch nicht Alles aufgegessen! Aber Jeder von ihnen hatte genug und die kleinen Cratchit’s waren bis an die Augenbrauen mit Salbei und Zwiebeln eingesalbt. Jetzt wurden die Teller von Miß Belinda gewechselt und Mrs. Cratchit verließ das Zimmer allein, denn

 sie war zu unruhig, Zeugen dulden zu können, um den Pudding herauszunehmen und herein zu bringen.

Wenn er nicht ausgebacken wäre! Wenn er beim Herausnehmen in Stücke zerfiele! Wenn Jemand über die Mauer des Hinterhauses geklettert wäre und ihn gestohlen hätte, während sie sich an der Gans erquickten – ein Gedanke, bei dem die beiden kleinen Cratchit’s bleich vor Schrecken wurden.

Halloh, eine Wolke Rauch! der Pudding war aus dem Kessel genommen. Ein Geruch, wie an einem Waschtag! das war die Serviette. Ein Geruch wie in einem Speisehause, mit einem Pastetenbäcker auf der einen und einer Wäscherin auf der andern Seite! Das war der Pudding. In einer halben Minute trat Mrs. Cratchit herein, aufgeregt, aber stolz lächelnd und vor sich den Pudding, hart und fest wie eine gefleckte Kanonenkugel, in einem Viertelquart Rum flammend und in der Mitte mit der festlichen Stechpalme geschmückt.

O, ein wunderbarer Pudding! Bob Cratchit sagte mit ruhiger und sicherer Stimme, er halte das für das größte Kochkunststück, welches Mrs. Cratchit seit ihrer Heirath verrichtet habe. Mrs. Cratchit sagte, jetzt, da die Last von ihrem Herzen sei, wolle sie nur gestehen, daß sie wegen der Menge des Mehls gar sehr in Angst gewesen sei. Jeder hatte darüber etwas zu sagen, aber Keiner sagte oder dachte, es sei doch ein kleiner Pudding für eine so große Familie. Das wäre offenbare Ketzerei gewesen. Jeder Cratchit würde sich geschämt haben, so etwas nur zu denken.

Endlich waren sie mit dem Essen fertig, der Tisch war abgedeckt, der Heerd gekehrt und das Feuer aufgeschürt. Das Gemisch in der Bowle wurde gekostet und für fertig erklärt, Aepfel und Apfelsinen auf den Tisch gesetzt und ein Paar Hände voll Kastanien auf das Feuer geschüttet. Dann setzte sich

die ganze Familie Cratchit um das Kamin in einem Kreise, wie es Bob Cratchit nannte, obgleich es eigentlich nur ein Halbkreis war; Bob in die Mitte und neben ihm der Gläservorrath der Familie; zwei Paßgläser und ein Milchkännchen ohne Henkel.

Diese Gefäße aber hielten das heiße Gemisch aus der Bowle so gut, als wenn es goldene Pokale gewesen wären, und Bob schenkte es mit strahlenden Blicken ein, während die Kastanien auf dem Feuer spuckten und platzten. Dann schlug Bob den Toast vor.

„Uns allen eine fröhliche Weihnacht, meine Lieben! Gott segne uns!“

Die ganze Familie wiederholte den Toast.

„Gott segne Jeden von uns!“ sagte Tiny Tim, der Letzte von Allen.

Er saß dicht neben seinem Vater auf seinem kleinen Stuhle. Bob hielt seine kleine welke Hand in der seinigen, als wenn er das Kind liebe und wünsche, es bei sich zu behalten und fürchte, es möchte ihm bald genommen werden.

„Geist,“ sagte Scrooge mit einer Theilnahme, wie er sie noch nie gefühlt hatte, „sag mir, wird Tiny Tim leben bleiben?“

„Ich sehe einen leeren Stuhl,“ antwortete der Geist, „in der Kaminecke und eine Krücke ohne einen Besitzer sorgfältig aufbewahrt. Wenn die Zukunft diese Schatten nicht ändert, wird das Kind sterben.“

„Nein, nein,“ sagte Scrooge. „Ach nein, guter Geist, sage, daß er leben bleiben wird.“

„Wenn die Zukunft diese Schatten nicht verändert, wird kein Anderer meines Geschlechtes,“ antwortete der Geist, „das Kind noch hier finden. Was thut es auch? Wenn es sterben muß, ist es besser, es thue es gleich und vermindere die überflüssige Bevölkerung.“

Scrooge senkte das Haupt, seine eigenen Worte von dem Geiste zu hören, und fühlte sich von Reue und Schmerz überwältigt.

„Mensch,“ sagte der Geist, „wenn Du ein menschliches Herz hast und kein steinernes, so hüte Dich, so heuchlerisch zu reden, bis Du weißt, was und wo dieser Ueberfluß ist. Willst Du entscheiden, welche Menschen leben, welche Menschen sterben sollen? Vielleicht bist Du in den Augen des Himmels unwürdiger und unfähiger zu leben, als Millionen, gleich dieses armen Mannes Kind. O, Gott, das Gewürme auf dem Blatt über die zu vielen Lebenden unter seinen hungrigen Brüdern im Staube reden zu hören!“

Scrooge nahm des Geistes Vorwurf demüthig hin und schlug die Augen nieder, aber er blickte schnell wieder in die Höhe, wie er seinen Namen nennen hörte.

„Es lebe Mr. Scrooge!“ sagte Bob, „Mr. Scrooge, der Schöpfer dieses Festes!“

„Der Schöpfer dieses Festes, wahrhaftig!“ rief Mrs. Cratchit mit glühendem Gesicht. „Ich wollte, ich hätte ihn hier. Ich wollte ihm ein Stück von meiner Meinung zu kosten geben, und ich hoffe, sie würde ihm schmecken.“

„Liebe Frau,“ sagte Bob, „die Kinder! – es ist Weihnachten.“

„Freilich sollte es Weihnachten sein,“ sagte sie, „wenn man die Gesundheit eines so niederträchtigen, geizigen, fühllosen Menschen, wie Scrooge ist, trinken kann. Und Du weißt es, Robert, daß er es ist, Niemand weiß es besser als Du!“

„Liebe Frau,“ antwortete Bob mild, „es ist Weihnachten.“

„Ich will seine Gesundheit trinken, Dir und dem Feste zu gefallen,“ sagte Mrs. Cratchit, „nicht seinetwegen. Möge er lange leben! Ein fröhliches Weihnachten und ein glückliches neues Jahr! – Er wird sehr fröhlich und sehr glücklich sein, das glaub’ ich.“

Die Kinder tranken die Gesundheit nach ihr. Es war das Erste, was sie an diesem Abend ohne Herzlichkeit und Wärme vornahmen.

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